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extracts from Rainer Maria Rilke's "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" (The Notebooks of Malte Laurids Brigge) (1910) in german

So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich wuerde eher meinen,
es stuerbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen:
Hospitaeler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und
umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest.
Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an
einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie
um sich zu ueberzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da.
Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d'Accouchement. Gut.
Man wird sie entbinden--man kann das. Weiter, rue Saint-Jacques, ein
grosses Gebaeude mit einer Kuppel. Der Plan gab an Val-de-grace,
Hospital militaire. Das brauchte ich eigentlich nicht zu wissen, aber
es schadet nicht. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es
roch, soviel sich unterscheiden liess, nach Jodoform, nach dem Fett von
pommes frites, nach Angst. Alle Staedte riechen im Sommer. Dann habe
ich ein eigentuemlich starblindes Haus gesehen, es war im Plan nicht zu
finden, aber ueber der Tuer stand noch ziemlich leserlich: Asyle de nuit.
Neben dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war
nicht teuer.

Und sonst? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war dick,
gruenlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn. Er
heilte offenbar ab und tat nicht weh. Das Kind schlief, der Mund war
offen, atmete Jodoform, pommes frites, Angst. Das war nun mal so.
Die Hauptsache war, dass man lebte. Das war die Hauptsache.


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Ich lerne sehen. Ich weiss nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer
in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer
zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles
geht jetzt dorthin. Ich weiss nicht, was dort geschieht.


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Und man hat niemand und nichts und faehrt in der Welt herum mit einem
Koffer und mit einer Buecherkiste und eigentlich ohne Neugierde. Was
fuer ein Leben ist das eigentlich: ohne Haus, ohne ererbte Dinge, ohne
Hunde. Haette man doch wenigstens seine Erinnerungen. Aber wer hat
die? Waere die Kindheit da, sie ist wie vergraben. Vielleicht muss man
alt sein, um an das alles heranreichen zu koennen. Ich denke es mir
gut, alt zu sein.

Heute war ein schoener, herbstlicher Morgen. Ich ging durch die
Tuilerien. Alles, was gegen Osten lag, vor der Sonne, blendete. Das
Angeschienene war vom Nebel verhangen wie von einem lichtgrauen
Vorhang. Grau im Grauen sonnten sich die Statuen in den noch nicht
enthuellten Gaerten. Einzelne Blumen in den langen Beeten standen auf
und sagten: Rot, mit einer erschrockenen Stimme. Dann kam ein sehr
grosser, schlanker Mann um die Ecke, von den Champs-Elysees her; er
trug eine Kruecke, aber nicht mehr unter die Schulter geschoben,--er
hielt sie vor sich her, leicht, und von Zeit zu Zeit stellte er sie
fest und laut auf wie einen Heroldstab. Er konnte ein Laecheln der
Freude nicht unterdruecken und laechelte, an allem vorbei, der Sonne,
den Baeumen zu. Sein Schritt war schuechtern wie der eines Kindes, aber
ungewoehnlich leicht, voll von Erinnerung an frueheres Gehen.


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Dass mein Ofen wieder einmal geraucht hat und ich ausgehen musste, das
ist doch wirklich kein Unglueck. Dass ich mich matt und erkaeltet fuehle,
hat nichts zu bedeuten. Dass ich den ganzen Tag in den Gassen
umhergelaufen bin, ist meine eigene Schuld. Ich haette ebensogut im
Louvre sitzen koennen. Oder nein, das haette ich nicht. Dort sind
gewisse Leute, die sich waermen wollen. Sie sitzen auf den Samtbaenken,
und ihre Fuesse stehen wie grosse leere Stiefel nebeneinander auf den
Gittern der Heizungen. Es sind aeusserst bescheidene Maenner, die
dankbar sind, wenn die Diener in den dunklen Uniformen mit den vielen
Orden sie dulden. Aber wenn ich eintrete, so grinsen sie. Grinsen
und nicken ein wenig. Und dann, wenn ich vor den Bildern hin und her
gehe, behalten sie mich im Auge, immer im Auge, immer in diesem
umgeruehrten, zusammengeflossenen Auge. Es war also gut, dass ich nicht
ins Louvre gegangen bin. Ich bin immer unterwegs gewesen. Weiss der
Himmel in wie vielen Staedten, Stadtteilen, Friedhoefen, Bruecken und
Durchgaengen. Irgendwo habe ich einen Mann gesehen, der einen
Gemuesewagen vor sich herschob. Er schrie: Choufleur, Chou-fleur, das
fleur mit eigentuemlich truebem eu. Neben ihm ging eine eckige,
haessliche Frau, die ihn von Zeit zu Zeit anstiess. Und wenn sie ihn
anstiess, so schrie er. Manchmal schrie er auch von selbst, aber dann
war es umsonst gewesen, und er musste gleich darauf wieder schreien,
weil man vor einem Hause war, welches kaufte. Habe ich schon gesagt,
dass er blind war? Nein? Also er war blind. Er war blind und schrie.
Ich faelsche, wenn ich das sage, ich unterschlage den Wagen, den er
schob, ich tue, als haette ich nicht bemerkt, dass er Blumenkohl ausrief.
Aber ist das wesentlich? Und wenn es auch wesentlich waere, kommt es
nicht darauf an, was die ganze Sache fuer mich gewesen ist? Ich habe
einen alten Mann gesehen, der blind war und schrie. Das habe ich
gesehen. Gesehen.


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Wird man es glauben, dass es solche Haeuser giebt? Nein, man wird sagen,
ich faelsche. Diesmal ist es Wahrheit, nichts weggelassen, natuerlich
auch nichts hinzugetan. Woher sollte ich es nehmen? Man weiss, dass
ich arm bin. Man weiss es. Haeuser? Aber, um genau zu sein, es waren
Haeuser, die nicht mehr da waren. Haeuser, die man abgebrochen hatte
von oben bis unten. Was da war, das waren die anderen Haeuser, die
danebengestanden hatten, hohe Nachbarhaeuser. Offenbar waren sie in
Gefahr, umzufallen, seit man nebenan alles weggenommen hatte; denn ein
ganzes Geruest von langen, geteerten Mastbaeumen war schraeg zwischen den
Grund des Schuttplatzes und die blossgelegte Mauer gerammt. Ich weiss
nicht, ob ich schon gesagt habe, dass ich diese Mauer meine. Aber es
war sozusagen nicht die erste Mauer der vorhandenen Haeuser (was man
doch haette annehmen muessen), sondern die letzte der frueheren. Man sah
ihre Innenseite. Man sah in den verschiedenen Stockwerken Zimmerwaende,
an denen noch die Tapeten klebten, da und dort den Ansatz des
Fussbodens oder der Decke. Neben den Zimmerwaenden blieb die ganze
Mauer entlang noch ein schmutzigweisser Raum, und durch diesen kroch in
unsaeglich widerlichen, wurmweichen, gleichsam verdauenden Bewegungen
die offene, rostfleckige Rinne der Abortroehre. Von den Wegen, die das
Leuchtgas gegangen war, waren graue, staubige Spuren am Rande der
Decken geblieben, und sie bogen da und dort, ganz unerwartet, rund um
und kamen in die farbige Wand hineingelaufen und in ein Loch hinein,
das schwarz und ruecksichtslos ausgerissen war. Am unvergesslichsten
aber waren die Waende selbst. Das zaehe Leben dieser Zimmer hatte sich
nicht zertreten lassen. Es war noch da, es hielt sich an den Naegeln,
die geblieben waren, es stand auf dem bandbreiten Rest der Fussboeden,
es war unter den Ansaetzen der Ecken, wo es noch ein klein wenig
Innenraum gab, zusammengekrochen. Man konnte sehen, dass es in der
Farbe war, die es langsam, Jahr um Jahr, verwandelt hatte: Blau in
schimmliches Gruen, Gruen in Grau und Gelb in ein altes, abgestandenes
Weiss, das fault. Aber es war auch in den frischeren Stellen, die sich
hinter Spiegeln, Bildern und Schraenken erhalten hatten; denn es hatte
ihre Umrisse gezogen und nachgezogen und war mit Spinnen und Staub
auch auf diesen versteckten Plaetzen gewesen, die jetzt blosslagen. Es
war in jedem Streifen, der abgeschunden war, es war in den feuchten
Blasen am unteren Rande der Tapeten, es schwankte in den abgerissenen
Fetzen, und aus den garstigen Flecken, die vor langer Zeit entstanden
waren, schwitzte es aus. Und aus diesen blau, gruen und gelb gewesenen
Waenden, die eingerahmt waren von den Bruchbahnen der zerstoerten
Zwischenmauern, stand die Luft dieser Leben heraus, die zaehe, traege,
stockige Luft, die kein Wind noch zerstreut hatte. Da standen die
Mittage und die Krankheiten und das Ausgeatmete und der jahrealte
Rauch und der Schweiss, der unter den Schultern ausbricht und die
Kleider schwer macht, und das Fade aus den Munden und der Fuselgeruch
gaerender Fuesse. Da stand das Scharfe vom Urin und das Brennen vom Russ
und grauer Kartoffeldunst und der schwere, glatte Gestank von
alterndem Schmalze. Der suesse, lange Geruch von vernachlaessigten
Saeuglingen war da und der Angstgeruch der Kinder, die in die Schule
gehen, und das Schwuele aus den Betten mannbarer Knaben. Und vieles
hatte sich dazugesellt, was von unten gekommen war, aus dem Abgrund
der Gasse, die verdunstete, und anderes war von oben herabgesickert
mit dem Regen, der ueber den Staedten nicht rein ist. Und manches hatte
die schwachen, zahm gewordenen Hauswinde, die immer in derselben
Strasse bleiben, zugetragen, und es war noch vieles da, wovon man den
Ursprung nicht wusste. Ich habe doch gesagt, dass man alle Mauern
abgebrochen hatte bis auf die letzte--? Nun von dieser Mauer spreche
ich fortwaehrend. Man wird sagen, ich haette lange davorgestanden; aber
ich will einen Eid geben dafuer, dass ich zu laufen begann, sobald ich
die Mauer erkannt hatte. Denn das ist das Schreckliche, dass ich sie
erkannt habe. Ich erkenne das alles hier, und darum geht es so ohne
weiteres in mich ein: es ist zu Hause in mir.


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Ich war etwas erschoepft nach alledem, man kann wohl sagen angegriffen,
und darum war es zuviel fuer mich, dass auch er noch auf mich warten
musste. Er wartete in der kleinen Cremerie, wo ich zwei Spiegeleier
essen wollte; ich war hungrig, ich war den ganzen Tag nicht dazu
gekommen zu essen. Aber ich konnte auch jetzt nichts zu mir nehmen;
ehe die Eier noch fertig waren, trieb es mich wieder hinaus in die
Strassen, die ganz dickfluessig von Menschen mir entgegenrannen. Denn
es war Fasching und Abend, und die Leute hatten alle Zeit und trieben
umher und rieben sich einer am andern. Und ihre Gesichter waren voll
von dem Licht, das aus den Schaubuden kam, und das Lachen quoll aus
ihren Munden wie Eiter aus offenen Stellen. Sie lachten immer mehr
und draengten sich immer enger zusammen, je ungeduldiger ich versuchte
vorwaerts zu kommen. Das Tuch eines Frauenzimmers hakte sich irgendwie
an mir fest, ich zog sie hinter mir her, und die Leute hielten mich
auf und lachten, und ich fuehlte, dass ich auch lachen sollte, aber ich
konnte es nicht. Jemand warf mir eine Hand Confetti in die Augen, und
es brannte wie eine Peitsche. An den Ecken waren die Menschen
festgekeilt, einer in den andern geschoben, und es war keine
Weiterbewegung in ihnen, nur ein leises, weiches Auf und Ab, als ob
sie sich stehend paarten. Aber obwohl sie standen und ich am Rande
der Fahrbahn, wo es Risse im Gedraenge gab, hinlief wie ein Rasender,
war es in Wahrheit doch so, dass sie sich bewegten und ich mich nicht
ruehrte. Denn es veraenderte sich nichts; wenn ich aufsah, gewahrte ich
immer noch dieselben Haeuser auf der einen Seite und auf der anderen
die Schaubuden. Vielleicht auch stand alles fest, und es war nur ein
Schwindel in mir und ihnen, der alles zu drehen schien. Ich hatte
keine Zeit, darueber nachzudenken, ich war schwer von Schweiss, und es
kreiste ein betaeubender Schmerz in mir, als ob in meinem Blute etwas
zu Grosses mittriebe, das die Adern ausdehnte, wohin es kam. Und dabei
fuehlte ich, dass die Luft laengst zu Ende war und dass ich nur mehr
Ausgeatmetes einzog, das meine Lungen stehen liessen.


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Ich kann mich nicht erinnern, wie ich durch die vielen Hoefe
hinausgekommen war. Es war Abend, und ich verirrte mich in der
fremden Gegend und ging Boulevards mit endlosen Mauern in einer
Richtung hinauf und, wenn dann kein Ende da war, in der
entgegengesetzten Richtung zurueck bis an irgendeinen Platz. Dort
begann ich eine Strasse zu gehen, und es kamen andere Strassen, die ich
nie gesehen hatte, und wieder andere. Elektrische Bahnen rasten
manchmal ueberhell und mit hartem, klopfendem Gelaeute heran und vorbei.
Aber auf ihren Tafeln standen Namen, die ich nicht kannte. Ich wusste
nicht, in welcher Stadt ich war und ob ich hier irgendwo eine Wohnung
hatte und was ich tun musste, um nicht mehr gehen zu muessen.


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Heute habe ich es nicht erwartet, ich bin so mutig ausgegangen, als
waere das das Natuerlichste und Einfachste. Und doch, es war wieder
etwas da, das mich nahm wie Papier, mich zusammenknuellte und fortwarf,
es war etwas Unerhoertes da.

Der Boulevard St-Michel war leer und weit, und es ging sich leicht auf
seiner leisen Neigung. Fensterfluegel oben oeffneten sich mit glaesernem
Aufklang, und ihr Glaenzen flog wie ein weisser Vogel ueber die Strasse.
Ein Wagen mit hellroten Raedern kam vorueber, und weiter unten trug
jemand etwas Lichtgruenes. Pferde liefen in blinkernden Geschirren auf
dem dunkel gespritzten Fahrdamm, der rein war. Der Wind war erregt,
neu, mild, und alles stieg auf: Gerueche, Rufe, Glocken.

Ich kam an einem der Cafehaeuser vorbei, in denen am Abend die falschen
roten Zigeuner spielen. Aus den offenen Fenstern kroch mit schlechtem
Gewissen die uebernaechtige Luft. Glattgekaemmte Kellner waren dabei,
vor der Tuere zu scheuern. Der eine stand gebueckt und warf, handvoll
nach handvoll, gelblichen Sand unter die Tische. Da stiess ihn einer
von den Voruebergehenden an und zeigte die Strasse hinunter. Der
Kellner, der ganz rot im Gesicht war, schaute eine Weile scharf hin,
dann verbreitete sich ein Lachen auf seinen bartlosen Wangen, als waere
es darauf verschuettet worden. Er winkte den andern Kellnern, drehte
das lachende Gesicht ein paarmal schnell von rechts nach links, um
alle herbeizurufen und selbst nichts zu versaeumen. Nun standen alle
und blickten hinuntersehend oder -suchend, laechelnd oder aergerlich,
dass sie noch nicht entdeckt hatten, was Laecherliches es gaebe.

Ich fuehlte, dass ein wenig Angst in mir anfing. Etwas draengte mich auf
die andere Seite hinueber; aber ich begann nur schneller zu gehen und
ueberblickte unwillkuerlich die wenigen Leute vor mir, an denen ich
nichts Besonderes bemerkte. Doch ich sah, dass der eine, ein
Laufbursche mit einer blauen Schuerze und einem leeren Henkelkorb ueber
der einen Schulter, jemandem nachschaute. Als er genug hatte, drehte
er sich auf derselben Stelle nach den Haeusern um und machte zu einem
lachenden Kommis hinueber die schwankende Bewegung vor der Stirne, die
allen gelaeufig ist. Dann blitzte er mit den schwarzen AEugen und kam
mir befriedigt und sich wiegend entgegen.

Ich erwartete, sobald mein Auge Raum hatte, irgendeine ungewoehnliche
und auffallende Figur zu sehen, aber es zeigte sich, dass vor mir
niemand ging, als ein grosser hagerer Mann in einem dunklen UEberzieher
und mit einem weichen, schwarzen Hut auf dem kurzen, fahlblonden Haar.
Ich vergewisserte mich, dass weder an der Kleidung, noch in dem
Benehmen dieses Mannes etwas Laecherliches sei, und versuchte schon, an
ihm vorueber den Boulevard hinunter zu schauen, als er ueber irgend
etwas stolperte. Da ich nahe hinter ihm folgte, nahm ich mich in acht,
aber als die Stelle kam, war da nichts, rein nichts. Wir gingen
beide weiter, er und ich, der Abstand zwischen uns blieb derselbe.
Jetzt kam ein Strassenuebergang, und da geschah es, dass der Mann vor mir
mit ungleichen Beinen die Stufen des Gangsteigs hinunterhuepfte in der
Art etwa, wie Kinder manchmal waehrend des Gehens aufhuepfen oder
springen, wenn sie sich freuen. Auf den jenseitigen Gangsteig kam er
einfach mit einem langen Schritt hinauf. Aber kaum war er oben, zog
er das eine Bein ein wenig an und huepfte auf dem anderen einmal hoch
und gleich darauf wieder und wieder. Jetzt konnte man diese
ploetzliche Bewegung wieder ganz gut fuer ein Stolpern halten, wenn man
sich einredete, es waere da eine Kleinigkeit gewesen, ein Kern, die
glitschige Schale einer Frucht, irgend etwas; und das Seltsame war,
dass der Mann selbst an das Vorhandensein eines Hindernisses zu glauben
schien, denn er sah sich jedesmal mit jenem halb aergerlichen, halb
vorwurfsvollen Blick, den die Leute in solchen Augenblicken haben,
nach der laestigen Stelle um. Noch einmal rief mich etwas Warnendes
auf die andere Seite der Strasse, aber ich folgte nicht und blieb
immerfort hinter diesem Manne, indem ich meine ganze Aufmerksamkeit
auf seine Beine richtete. Ich muss gestehen, dass ich mich merkwuerdig
erleichtert fuehlte, als etwa zwanzig Schritte lang jenes Huepfen nicht
wiederkam, aber da ich nun meine AEugen aufhob, bemerkte ich, dass dem
Manne ein anderes AErgernis entstanden war. Der Kragen seines
UEberziehers hatte sich aufgestellt; und wie er sich auch, bald mit
einer Hand, bald mit beiden umstaendlich bemuehte, ihn niederzulegen, es
wollte nicht gelingen. Das kam vor. Es beunruhigte mich nicht. Aber
gleich darauf gewahrte ich mit grenzenloser Verwunderung, dass in den
beschaeftigten Haenden dieses Menschen zwei Bewegungen waren: eine
heimliche, rasche, mit welcher er den Kragen unmerklich hochklappte,
und jene andere ausfuehrliche, anhaltende, gleichsam uebertrieben
buchstabierte Bewegung, die das Umlegen des Kragens bewerkstelligen
sollte. Diese Beobachtung verwirrte mich so sehr, dass zwei Minuten
vergingen, ehe ich erkannte, dass im Halse des Mannes, hinter dem
hochgeschobenen UEberzieher und den nervoes agierenden Haenden dasselbe
schreckliche, zweisilbige Huepfen war, das seine Beine eben verlassen
hatte. Von diesem Augenblick an war ich an ihn gebunden. Ich begriff,
dass dieses Huepfen in seinem Koerper herumirrte, dass es versuchte, hier
und da auszubrechen. Ich verstand seine Angst vor den Leuten, und ich
begann selber vorsichtig zu pruefen, ob die Voruebergehenden etwas
merkten. Ein kalter Stich fuhr mir durch den Ruecken, als seine Beine
ploetzlich einen kleinen, zuckenden Sprung machten, aber niemand hatte
es gesehen, und ich dachte mir aus, dass auch ich ein wenig stolpern
wollte, im Falle jemand aufmerksam wurde. Das waere gewiss ein Mittel,
Neugierige glauben zu machen, es haette da doch ein kleines,
unscheinbares Hindernis im Wege gelegen, auf das wir zufaellig beide
getreten haetten. Aber waehrend ich so auf Huelfe sann, hatte er selbst
einen neuen, ausgezeichneten Ausweg gefunden. Ich habe vergessen zu
sagen, dass er einen Stock trug, nun, es war ein einfacher Stock, aus
dunklem Holze mit einem schlichten, rund gebogenen Handgriff. Und es
war ihm in seiner suchenden Angst in den Sinn gekommen, diesen Stock
zunaechst mit einer Hand (denn wer weiss, wozu die zweite noch noetig
sein wuerde) auf den Ruecken zu halten, gerade ueber die Wirbelsaeule, ihn
fest ins Kreuz zu druecken und das Ende der runden Kruecke in den Kragen
zu schieben, so dass man es hart und wie einen Halt hinter dem
Halswirbel und dem ersten Rueckenwirbel spuerte. Das war eine Haltung,
die nicht auffaellig, hoechstens ein wenig uebermuetig war; der
unerwartete Fruehlingstag konnte das entschuldigen. Niemandem fiel es
ein, sich umzusehen, und nun ging es. Es ging vortrefflich. Freilich
beim naechsten Strassenuebergange kamen zwei Huepfer aus, zwei kleine,
halbunterdrueckte Huepfer, die vollkommen belanglos waren; und der eine,
wirklich sichtbare Sprung war so geschickt angebracht (es lag gerade
ein Spritzschlauch quer ueber dem Weg), dass nichts zu befuerchten war.
Ja, noch ging alles gut; von Zeit zu Zeit griff auch die zweite Hand
an den Stock und presste ihn fester an, und die Gefahr war gleich
wieder ueberstanden. Ich konnte nichts dagegen tun, dass meine Angst
dennoch wuchs. Ich wusste, dass, waehrend er ging und mit unendlicher
Anstrengung versuchte, gleichgueltig und zerstreut auszusehen, das
furchtbare Zucken in seinem Koerper sich anhaeufte; auch in mir war die
Angst, mit der er es wachsen und wachsen fuehlte, und ich sah, wie er
sich an den Stock klammerte, wenn es innen in ihm zu ruetteln begann.
Dann war der Ausdruck dieser Haende so unerbittlich und streng, dass ich
alle Hoffnung in seinen Willen setzte, der gross sein musste. Aber was
war da ein Wille. Der Augenblick musste kommen, da seine Kraft zu Ende
war, er konnte nicht weit sein. Und ich, der ich hinter ihm herging
mit stark schlagendem Herzen, ich legte mein bisschen Kraft zusammen
wie Geld, und indem ich auf seine Haende sah, bat ich ihn, er moechte
nehmen, wenn er es brauchte.

Ich glaube, dass er es genommen hat; was konnte ich dafuer, dass es nicht
mehr war.

Auf der Place St-Michel waren viele Fahrzeuge und hin und her eilende
Leute, wir waren oft zwischen zwei Wagen und dann holte er Atem und
liess sich ein wenig gehen, wie um auszuruhen, und ein wenig huepfte es
und nickte ein wenig. Vielleicht war das die List, mit der die
gefangene Krankheit ihn ueberwinden wollte. Der Wille war an zwei
Stellen durchbrochen, und das Nachgeben hatte in den besessenen
Muskeln einen leisen, lockenden Reiz zurueckgelassen und den zwingenden
Zweitakt. Aber der Stock war noch an seinem Platz, und die Haende
sahen boese und zornig aus; so betraten wir die Bruecke, und es ging.
Es ging. Nun kam etwas Unsicheres in den Gang, nun lief er zwei
Schritte, und nun stand er. Stand. Die linke Hand loeste sich leise
vom Stock ab und hob sich so langsam empor, dass ich sie vor der Luft
zittern sah; er schob den Hut ein wenig zurueck und strich sich ueber
die Stirn. Er wandte ein wenig den Kopf, und sein Blick schwankte
ueber Himmel, Haeuser und Wasser hin, ohne zu fassen, und dann gab er
nach. Der Stock war fort, er spannte die Arme aus, als ob er
auffliegen wollte, und es brach aus ihm aus wie eine Naturkraft und
bog ihn vor und riss ihn zurueck und liess ihn nicken und neigen und
schleuderte Tanzkraft aus ihm heraus unter die Menge. Denn schon
waren viele Leute um ihn, und ich sah ihn nicht mehr.

Was haette es fuer einen Sinn gehabt, noch irgendwohin zu gehen, ich war
leer. Wie ein leeres Papier trieb ich an den Haeusern entlang, den
Boulevard wieder hinauf.


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Junge Maedchen allerdings findet man zuweilen davor. Denn es giebt
eine Menge junger Maedchen in den Museen, die fortgegangen sind
irgendwo aus den Haeusern, die nichts mehr behalten. Sie finden sich
vor diesen Teppichen und vergessen sich ein wenig. Sie haben immer
gefuehlt, dass es dies gegeben hat, solch ein leises Leben langsamer,
nie ganz aufgeklaerter Gebaerden, und sie erinnern sich dunkel, dass sie
sogar eine Zeitlang meinten, es wuerde ihr Leben sein. Aber dann
ziehen sie rasch ein Heft hervor und beginnen zu zeichnen, gleichviel
was, eine von den Blumen oder ein kleines, vergnuegtes Tier. Darauf
kaeme es nicht an, hat man ihnen vorgesagt, was es gerade waere. Und
darauf kommt es wirklich nicht an. Nur dass gezeichnet wird, das ist
die Hauptsache; denn dazu sind sie fortgegangen eines Tages, ziemlich
gewaltsam. Sie sind aus guter Familie. Aber wenn sie jetzt beim
Zeichnen die Arme heben, so ergiebt sich, dass ihr Kleid hinten nicht
zugeknoepft ist oder doch nicht ganz. Es sind da ein paar Knoepfe, die
man nicht erreichen kann. Denn als dieses Kleid gemacht wurde, war
noch nicht davon die Rede gewesen, dass sie ploetzlich allein weggehen
wuerden. In der Familie ist immer jemand fuer solche Knoepfe. Aber hier,
lieber Gott, wer sollte sich damit abgeben in einer so grossen Stadt.
Man muesste schon eine Freundin haben; Freundinnen sind aber in
derselben Lage, und da kommt es doch darauf hinaus, dass man sich
gegenseitig die Kleider schliesst. Das ist laecherlich und erinnert an
die Familie, an die man nicht erinnert sein will.



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So unwahrscheinlich es ist, es war mir irgendwie gelungen, gegen Abend
allein aus dem Haus zu kommen; ich lief, ich bog um eine Ecke, und in
demselben Augenblick stiess ich gegen ihn. Ich begreife nicht, wie das,
was jetzt geschah, sich in etwa fuenf Sekunden abspielen konnte. So
dicht man es auch erzaehlt, es dauert viel laenger. Ich hatte mir weh
getan im Anlauf an ihn; ich war klein, es schien mir schon viel, dass
ich nicht weinte, auch erwartete ich unwillkuerlich, getroestet zu sein.
Da er das nicht tat, hielt ich ihn fuer verlegen; es fiel ihm,
vermutete ich, der richtige Scherz nicht ein, in dem diese Sache
aufzuloesen war. Ich war schon vergnuegt genug, ihm dabei zu helfen,
aber dazu war es noetig, ihm ins Gesicht zu sehen. Ich habe gesagt,
dass er gross war. Nun hatte er sich nicht, wie es doch natuerlich
gewesen waere, ueber mich gebeugt, so dass er sich in einer Hoehe befand,
auf die ich nicht vorbereitet war. Immer noch war vor mir nichts als
der Geruch und die eigentuemliche Haerte seines Anzugs, die ich gefuehlt
hatte. Ploetzlich kam sein Gesicht. Wie es war? Ich weiss es nicht,
ich will es nicht wissen. Es war das Gesicht eines Feindes. Und
neben diesem Gesicht, dicht nebenan, in der Hoehe der schrecklichen
Augen, stand, wie ein zweiter Kopf, seine Faust. Ehe ich noch Zeit
hatte, mein Gesicht wegzusenken, lief ich schon; ich wich links an ihm
vorbei und lief geradeaus eine leere, furchtbare Gasse hinunter, die
Gasse einer fremden Stadt, einer Stadt, in der nichts vergeben wird.